Insulea - Mein Leben mit chronischen Erkrankungen

Ein Blog über meinen Alltag mit Diabetes Typ 1, Asthma, POTS und Endometriose.

Alle sprechen über meine chronischen Erkrankungen - und wer spricht mit mir?

 Ein Freund von mir wurde vor Kurzem mit Diabetes Typ 1 diagnostiziert. Aber das ist ja keine Erkrankung, die groß belastet oder einschränkt“ - diesen Satz hörte ich auf einer Veranstaltung, der Person war nicht bewusst, dass ich selbst mit Diabetes Typ 1 lebe. Leider war es mir zeitlich nicht möglich, in den Dialog zu treten, aber es lässt mich nicht los. Warum denken Menschen, die offensichtlich nicht selbst mit einer Erkrankung/Behinderung leben, noch immer, dass es ihnen zusteht, über diese urteilen zu können?


Wenn du eine Person mit Diabetes Typ 1 kennst (und das lässt sich eigentlich auf alle Erkrankungen übertragen), dann kennst du nicht automatisch alle. Wir alle sind von unseren Lebensrealitäten und unserem Umfeld beeinflusst. Körper funktionieren und reagieren unterschiedlich. Es gibt viele äußerliche und auch innerliche Faktoren, die eine Erkrankung beeinflussen können. Die meisten Erkrankungen/Behinderungen fluktuieren in ihrer Intensität und wir (oder leider die Erkrankung) entscheiden darüber, was wir mit der Außenwelt teilen (können) oder nicht. Wenn es mir schlecht geht, dann sage ich Verabredungen oder andere Termine ab und verbringe die Zeit im Bett, aber nicht wie es sich die Menschen vorstellen - gemütlich mit Serien gucken oder lesen - dazu bin ich dann viel zu erschöpft. 


Pillen verschiedener Farbe und Größe liegen vor einem Trockenblumenstrauß


Über ungewollte Ratschläge

Wenn ich frustriert darüber bin, teile ich es eventuell noch mit meiner Community in den Sozialen Medien, weil ich weiß, dass diese Menschen immer ein offenes Ohr für mich haben und mich auf einem ganz anderen Level verstehen können; die Situation nachempfinden können. Sie wissen, dass ich weder Mitleid noch vermeintliche Lösungsvorschläge hören möchte - denn mal ehrlich, chronisch und Lösung vertragen sich nicht gut miteinander. Natürlich habe ich schon alles mir mögliche (aus-)probiert, damit es mir besser geht, mein Wissen über meine Erkrankungen ist über ein Jahrzehnt angeeignet und kommt nicht aus der letzten Klatschzeitschrift, in der steht, dass Zimt ganz wunderbar bei hohen Blutzuckerwerten helfen könne. Und auch meine Depressionen habe ich nicht überlebt, weil ich so oft gehört habe, dass ich mich doch „einfach mal aufraffen und mehr lächeln“ solle. 


Wie über chronische Erkrankungen/Behinderung (nicht) gesprochen wird

Es ist schwierig, wenn chronische Erkrankungen/Behinderungen nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Ich sage nicht „unsichtbar“, weil ich der Meinung bin, dass mensch ganz genau mitbekommen kann, wie es mir geht, wenn mir einfach zugehört wird und nicht aus Unwohlsein oder Scham weggeschaut wird. Wenn ich über meine oder andere Erkrankungen spreche (und das tue ich oft, es ist sogar ein Teil meines Berufs), dann merke ich, dass es den Menschen unangenehm ist. Sie möchten ungern tiefer verstehen oder sich damit auseinandersetzen, was es wirklich bedeutet, chronisch krank oder behindert zu sein, denn es ist belastend für alle. Ich kann es in gewisser Weise auch verstehen, es ist kein einfaches Thema und erfordert eine Auseinandersetzung mit oftmals tabuisierten Aspekten. Aber es ist so wichtig, gerade in Bezug auf Barrierefreiheit, Teilhabe und den Umgang miteinander. 


Es wird so viel gesagt und nicht bedacht, wie die Worte bei Menschen mit chronischen Erkrankungen/Behinderungen ankommen und wie sehr es verletzen kann, gerade auch von nahestehenden Personen oder Menschen, von denen mehr Reflektion erwartet wurde. Du kannst nicht Dinge erwidern wie „ja, heute bin ich auch müde“, „immerhin ist es kein Krebs“ oder „das traumatisiert mich“ und erwarten, dass auf so überaus sensible und degradierende Aussagen kein Protest folgt. Mein Tipp: Kritik annehmen, sich entschuldigen, darüber nachdenken und das nächste Mal besser machen, anstatt abzublocken und über „Befindlichkeiten“ und „war doch nur Spaß“ zu nuscheln. 

Aber dein*e Freund*in hat die Erkrankung auch und findet deine Aussagen lustig? Kann schon sein, bedeutet aber nicht, dass du Witze darüber machen solltest, wenn du nicht weißt, wie herausfordernd sich die Erkrankung bei anderen Menschen zeigt. Für manche ist schwarzer Humor vielleicht ein Coping-Mechanismus, für den Großteil jedoch nicht. Da bleibt nur hinzuzufügen, dass #Diabetes unter Fotos von Süßigkeiten und Gebäck in den Sozialen Medien ziemlich unwitzig ist und fröhlich weiter Stigmatisierung reproduziert. 


Ich möchte noch erwähnen, dass es natürlich auch viele Menschen gibt, die über meine Erkrankungen lernen möchten und ganz vorsichtig und reflektiert Fragen stellen und darüber freue ich mich immer sehr! Es gibt mir die Chance zur Aufklärung. Dabei darf ich bestimmen, was ich teilen möchte und mir ist bewusst, dass nicht jede*r über alle Erkrankungen Bescheid wissen kann. Das weiß ich schließlich auch nicht und ich denke, dass es unmöglich ist — wiederum weil wir eben alle so unterschiedlich sind. Es ist eine ganz andere Sache, ehrlich interessiert zu fragen und ebenso ehrliche Antworten aushalten zu können, auch wenn diese unangenehm sind oder traurig stimmen. 


Eine Insulinflasche steht vor einem bunten Trockenblumenstrauß.


Der schmale Grad zwischen Empathie und ungewollter Inspiration

Darüber hinaus liegt es auch im Ermessen der Person, mit wem und was sie über ihre Erkrankung(en) teilen möchte. Es ist immer wieder ein schmaler Grad zwischen „ich möchte kein Mitleid“ oder hören, dass ich „ja so inspirierend sei“. Ich persönlich (!) möchte Empathie und Anerkennung für das, was ich leiste, Erkrankung(en) hin oder her. Vielleicht möchte ich manchmal auch einfach darüber sprechen, ohne Reaktionen oder Tipps zu bekommen. In den meisten Fällen jedoch werden dir deine Mitmenschen nicht das volle Ausmaß ihrer Erkrankung(en) offenlegen. 


Denn, was dazu kommt, ist, dass wir Menschen in unserem Umfeld nicht in Sorge versetzen möchten. Wir möchten nicht, dass sie sich schlecht fühlen, weil es uns schlecht geht. Für uns ist dieses „schlecht“ eine Lebenssituation, an die wir uns gewöhnt haben und die Alltag bedeutet. Nur weil es uns körperlich nicht gut geht, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass unser Leben traurig ist oder wir es nicht genießen können. Mir kann es schlecht gehen und ich bin trotzdem auf einer Hochzeit und habe meinen Spaß, tanze vielleicht sogar, obwohl ich Schmerzen habe, weil ich es genießen möchte. Vielleicht fahre ich den einen Tag 20km Fahrrad und kann den anderen Tag nicht aus dem Bett aufstehen (ja, wirklich gar nicht). 

Vielleicht gehe ich wandern, lebe zeitweilig im Ausland und arbeite in Vollzeit, in einer körperlichen Verfassung, bei der andere Menschen eher im Wartezimmer der nächsten Praxis sitzen oder sich im Krankenhaus durchchecken lassen. Vielleicht macht mich das stark und resilient, aber es gibt für mich keine Alternative und Kommentare in diese Richtung helfen nicht, sondern sind allenfalls mein Leben herabwürdigend, was sehr verletzend ist. Es ist schließlich das Leben - mein Leben, für welches ich jeden Tag all diese extra Aufgaben habe und mir viele Freiheiten wieder und wieder erkämpfen muss.  


Ich bin unendlich dankbar, dass ich an den meisten Tagen (wieder) mein Leben genießen und leben kann. Klar ist es schwer, dann Grenzen zu setzen, auch wenn ich mich an manchen Tagen körperlich viel stärker fühle als an anderen. In der Konsequenz fällt es wieder auf meine Gesundheit zurück, damit muss ich leben. So lerne ich jeden Tag dazu und mache auch mal Fehler, weil ich mich mitreißen lasse. Das gehört zum Wachsen dazu. 


Disclaimer: Ich lebe selbst mit mehreren chronischen Erkrankungen, dies ist also nicht nur auf Diabetes Typ 1 bezogen.